Im Sommer 2017 ging es nach Russisch-Karelien


Start in Berlin, von dort nach Travemünde und mit der Fähre Helsinki. Auf dem Landweg nach St.Petersburg, weiter nach Norden bis Murmansk,anschliessend über Norwegen nach Rovaniemi. In Rovaniemi auf den Autozug zurück nach Helsinki wieder auf die Fähre nach Travemünde.

Russisch-Karelien 2017 - Zwanzigster Tag - Das russische Ende der Welt

20. Tag -- Das russische Ende der Welt

Der nächste Morgen ist immer noch grau und trist. Also erst einmal ein sehr leckeres, ausgiebiges Frühstück im Azimut Hotel, bevor wir uns auf eine längere Suche nach Postkarten in der Stadt machen und dabei auch noch die russische Post von innen kennenlernen. Wer dort ein Anliegen hat, muss eine Nummer ziehen, die vorab allerdings eine Auswahl des Kundenwunsches erfordert. Das begreifen wir anfangs natürlich nicht, wählen dann später einfach irgendetwas aus und bekommen letztlich die gewünschten Briefmarken. Es sind diese kleinen Erfahrungen und Besonderheiten, die das Reisen spannend machen und in Erinnerung bleiben.

Nun steht der Besuch von „Aljoscha“ auf unserem Besuchsplan. „Aljoscha“ ist der Kosename für die monumentale, immerhin über 35 m hohe Statue eines Rotarmisten, ein Denkmal für die „Verteidiger der Sowjetischen Polarregion im Großen Vaterländischen Krieg.“ Der Blick vom Hügel, auf dem sich der Denkmalskomplex befindet, auf die Stadt und den Hafen ist weit, aber durch die hängenden Wolken und den Wind natürlich etwas getrübt.

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Wir verlassen Murmansk Richtung Norden und kommen dann aber nicht allzu weit. Kurz vor Seweromorsk kommen wir an einen Kontrollposten an der Straße, der jeden kontrolliert, der in die Stadt will. Eigentlich hatten wir schon erwartet, hier nicht weiter zu kommen, aber wir waren von Neugier getrieben. Seweromorsk ist auch heute noch – wie auch andere Städte in der näheren Umgebung – eine geschlossene Stadt. Die 70.000 Einwohner-Stadt ist ein wichtiger Stützpunkt der russischen Nordmeerflotte und als geschlossene Stadt auch heute noch mit Zugangsbeschränkungen versehen. Für uns ist es kaum zu glauben, dass so große Städte so abgeschirmt werden. Und so zeigt es dann natürlich der militärische Wachposten die rote Kelle und winkt uns aus der Schlange heraus. Wir werden zwar nicht gleich festgenommen, aber die Kontrolle unserer Papiere dauert dann doch eine ganze Weile. Wir warten gespannt in unserem Auto, die Fensterluke am Kontrollhäuschen öffnet und schließt sich mehrfach, unser Auto wird fotografiert (???) und nach einer gefühlten (und doch ein aufregenden) Ewigkeit bekommen wir dann unsere Papiere wieder und werden durch den Kontrollposten wieder auf den Rückweg in Richtung Murmansk gebracht. Puuuh – das ist ja noch einmal gut gegangen. Ein zweites Mal in eine solche Kontrolle zu kommen, sollte uns wohl besser nicht passieren.

Nach soviel Anspannung brauchen wir erst einmal eine kleine Pause und machen Halt an einem kleinen Cafe an einer Liftanlage bei Murmansk. Kaffee und Blini sorgen schnell dafür, dass sich die Aufregung legt.

Wir setzen unsere Reise fort, und es verschlägt uns noch einmal tief auf die Kola-Halbinsel, diese Mal an die Nordküste nach Teriberka. Viel hatten wir zuvor von Teriberka gelesen – über die lange Anfahrt dorthin, die schöne Lage des Dorfes direkt an der Barentsee und auch über die Historie. Teriberka ist ca. 120 km von Murmansk entfernt, ca. 1/3 der Strecke davon Schotterpiste.

Ein bekannter Reiseführer bezeichnet Teriberka als einen der malerischsten Orte im arktischen Russland mit Skeletten alter Boote am Ufer, Holzhütten, leeren Häusern aus der Zeit der Sowjetunion und einem farbenfrohen Strandfriedhof, erreichbar über spektakuläres arktisches Land. Unbestritten finden wir all dies vor, als wir Teriberka erreichen, es scheint uns aber nur die halbe Wahrheit zu sein.

Teriberka war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein größeres Dorf mit knapp 5.000 Einwohnern, das sich wirtschaftlich gut entwickelt hatte. Im Ort gab es Fischzuchtbetriebe, Rentier-, Nerz- und Geflügelfarmen, eine Wert, Geschäfte und Lagerhäuser. Das Dorfleben spielte sich im Stadion, im Gemeindezentrum, im Arbeiterclub, im Club der Jungen Pionieren ab; es gab Schulen, ein Internat, Krankenhaus usw. – Teriberka war ein funktionierender Ort, bis in den 1960er Jahren der Untergang begann. Die Fischereiindustrie brach zusammen, damit auch die Fischverarbeitung, die Kolchose und die Nerzfarm wurden abgeschafft, die Rentierherde nach Lovozero verlegt, Krankenhaus, Schule, Kindergarten schlossen. Heute leben im Ort nur noch etwa 1.000 Einwohner, viele Menschen sind arbeitslos. Die meisten der noch vor 50 Jahren bewohnten Gebäude stehen noch als verfallene Zeugen der erfolgreichen Vergangenheit.

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 Teriberkas Ruhm gründet heute auf Verfall (s. https://diepresse.com/home/leben/reise/5060373/Das-russische-Ende-der-Welt) , und Ruinen sind seine neuesten Sehenswürdigkeiten. Denn 2014 wurde im Ort der erfolgreiche und vielfach preisgekrönte Film „Leviathan“ gedreht. Seitdem zieht es nicht wenige Touristen zu den Drehorten des Films. Ob Tourismus den weiteren Untergang von Teriberka verhindern kann oder die Erschließung eines großen Gasfeldes, das vor der Küste entdeckt wurde – wer weiß das schon?

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Und so ist Teriberka für uns ein Ort tatsächlich vielen Fotomotiven, der uns aber auch nachdenklich insbesondere darüber sein lässt, wie man in dieser Abgeschiedenheit und Tristesse sein Leben gestaltet.

Nach langer Fahrt kommen wir in Teriberka an, das sich in zwei Teile gliedert. Wir steuern zunächst den Ortsteil an, der offensichtlich die schöneren Strände bietet. Der Ort macht einen leeren Eindruck, der erste Mann, den wir treffen und nach einer Unterkunft fragen, macht auf uns einen verwirrten Eindruck. Direkt am Sandstrand sind einige neuere Hütten aufgebaut. Wir fragen dort nach einer Unterkunft, die Lustlosigkeit, mit der die jungen Leute dort auftreten, lässt uns aber dort schnell wieder verschwinden. Im anderen Ortsteil von Teriberka, vorbei am Schiffsfriedhof und einer zerfallenen Brücke, erleben wir dann echte Gastlichkeit. Die junge Frau, die wir nach dem Hotel Teriberka fragen, sitzt flugs darauf mit auf dem Beifahrersitz, sie lotst uns durch eine Schranke, über Industriegelände zum Hotelgebäude, das zumindest außen noch eine Baustelle ist. Die hilfsbereite und freundliche junge Frau war jedoch nicht die Hotelbetreiberin, wie sich jetzt herausstellte, sondern selbst Gast in dieser jugendherbergsähnlichen Unterkunft. Wir beziehen ein einfaches, aber warmes Zimmer und fühlen uns in dieser Einfachheit und den netten Menschen um uns herum sofort wohl.

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Obwohl es bereits spät ist und kalt und windig, wollen wir den Ort und die Umgebung noch erkunden. Im Magazin, dessen prall gefüllte Auslagen uns ziemlich erstaunen, kaufen wir etwas Wegzehrung. Beim Schlendern durch Teriberka machen wir uns dann ein eigenes Bild – wir sehen die abbruchreifen Häuser, an deren zerfallenen Fassaden knallgelbe Schilder den drohenden Abriss ankündigen und mehrstöckige, typisch sowjetische Wohnsilos - aber auch ein neues Schulgebäude und eine neue kleine Kirche, daneben Schrottberge aus alten Autos, Kinderwagen und sonstigem Müll – die offenbar in Russland typischen kleinen Garagen, die auch immer einen kleinen Schornstein haben und meist daneben auch einen laut kläffenden, glücklicherweise angeleinten Hund – Kinder fahren mit Fahrrädern auf der Straße durchs Dorf, die eher eine Staubpiste ist, und schauen uns neugierig an. Die Piste, die das Dorf in Richtung Meer verlässt, quert auch den örtlichen Müllplatz. Wir wandern noch bis zu den Klippen, die in die Barentssee ragen. Es ist leider nebelig und sehr windig – Beluga-Wale – wie wir sie schon einmal vor zwei Jahren im Nordmeer gesehen hatten – kommen uns heute leider nicht vor die Linse. Und so geht’s dann auch zügig in unsere warme Unterkunft.

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